Fotokritik

Kurze Geschichte des vernetzten Schauens

Posted in Uncategorized by Joachim Schmid on Juni 11, 2015

Der Krieg, heisst es, sei der Vater aller Dinge. Das stimmt nicht ganz, es sind wahrlich nicht alle. Auch verschweigt der Gemeinplatz die Mütter der Dinge. Der Erfindungsgeist hat viele Mütter, und als eine dieser vernachlässigten Mütter müssen wir die Faulheit preisen. Man könnte sogar behaupten, dass die Menschen, würden sie sich etwas mehr auf diese mütterliche Tugend besinnen, mit deutlich weniger Kriegen auskämen.

Effiziente Kriegsführung beruht auf Forschung. Doch auch unter emsigen Forschern herrscht, wenn’s ums Banale geht, die Faulheit. Kaum jemand verlässt für nebensächliche Verrichtungen des Alltags gerne seinen Schreibtisch, trotz der wohltuenden Wirkung regelmäßigen Gehens. Auch fleissige Wissenschaftler haben faule Stellen. Dieser Eigenart verdankt die Webcam ihr Dasein. Sie dient dem Sitzen.

Bevor kleine Aluminiumpatronen in knuffige Apparate gesteckt wurden, aus denen wenig später pro Patrone eine Tasse Kaffe sich ergießt, standen in Büros sogenannte Kaffeemaschinen. Jemand musste Wasser in ein Behältnis füllen, einen Papierfilter in die Halterung stecken, die passende Menge Kaffeepulver einfüllen, einen Knopf drücken und einige Minuten warten. Man machte das nicht für eine Tasse. Obwohl die Maschine die beim Büropersonal populärste Droge produzierte, mochte kaum jemand Sitz- und Arbeitszeit für ihre Bedienung opfern. Statt dessen schlenderte man beiläufig zum Automaten, um nachzusehen, ob von dem Kaffee, den irgend jemand gemacht hatte, noch etwas übrig war; verschwendete Zeit und häufig nutzloses Gehen.

Jetzt schlägt die Stunde der Faulheit. Sie bringt den Erfinder auf Trab, damit er sich wenig später wieder ganz dem Sitzen widmen kann. Eine mit einem Computer verbundene Kamera wird auf die Glaskanne der Kaffeemaschine gerichtet, das Bild mit geringer Verzögerung ins interne Netz übertragen, und die Angestellten können an ihren Rechnern den Kaffeevorrat überprüfen. So entstand vor fast fünfundzwanzig Jahren die erste Webcam. Im Rechnerlabor der University of Cambridge musste nie mehr irgend jemand vergeblich zur Kaffeemaschine gehen.

In den folgenden Jahren wuchs das Internet weit über universitäre und militärische Zirkel hinaus, so dass auch Unbeteiligte Zugriff auf die Bilder der Kaffeekamera bekamen, und nicht nur auf diese. Das Prinzip hatte sich bewährt, wurde begeistert kopiert und auf andere Anwendungen übertragen, auf nützliche und weniger nützliche. Man konnte nun an jedem Computer nachsehen, ob an einem entfernten Ort gerade Schnee lag oder wie dunkel die Nacht auf der anderen Seite der Welt war. Eine auf ein Aquarium gerichtete Kamera wurde populär, wohl auch wegen der morphologischen Nähe zum Monitor. Man sah auf seinem Bildschirm Fische in einem Glasgefäß, das eine ähnliche Größe wie das heimische Gerät hatte – fast wie echt und so aufregend wie ein Bildschirmschoner.

Dann kam Jenni. Die Studentin erklärte ihr Zimmer im Wohnheim zum Aquarium. Ihre Kamera war permanent online und erlaubte allen den ungefilterten Blick in den Alltag der Bewohnerin. Dass Jenni sich vor der Kamera auch an- und auszog und ausserdem sexuell nicht abstinent war, steigerte die Popularität ihres Angebots. Ähnliche Ansätze der medialen Verarbeitung des Alltagslebens waren aus dem zeitgenössischen Experimentalfilm und der Konzeptkunst wohl bekannt, für ein großes Publikum waren sie ein Novum. Die Eingeweihten wurden, wenn sie Jenni schlafen sahen, wohl unweigerlich an Andy Warhols Sleep erinnert, nur musste man jetzt nicht mehr ins Kino oder ins Museum gehen, um Fremden beim Schlafen zuzusehen. Die Besucherzahlen stiegen rapide, wenn Jenni duschen ging. Dann entdeckte Jenni, dass man fürs Zuschauen auch Geld nehmen kann.

JenniCam fand eine Vielzahl von Nachahmern und dabei entstand zwangsläufig Artenvielfalt. Das Private wurde in allerlei Varianten öffentlich und findet gelegentlich sogar zahlendes Publikum. Die wohl erfolgreichste Variante ist das global florierende Geschäft der Sexcams, eine Form der Tele-Sexualität für Leute, die mit Internet, Kreditkarte und sich selbst zufrieden sind. Technisch ist das neu, wirtschaftlich funktioniert alles wie immer: Die Armen machen sich krumm und die Wohlhabenden konsumieren.

Wie bei den meisten populären Seiten des Internet ist der hauptsächliche Zweck vieler Webcams, dem Leben das Ungewisse zu nehmen. Man kann sich vergewissern, wie am Urlaubsort das Wetter und auf dem Weg dorthin die Verkehrslage ist, ob der Biergarten gut besucht oder der Pegelstand des Badesees in Ordnung ist. Zum Nützlichen gesellt sich das Unnütze, der Blick in den Vorgarten der Familie A oder in das Katzenklo der Familie B. Wir sollten einfach nur zur Kenntnis nehmen, dass so etwas für manche offensichtlich Unterhaltungswert hat. Die einen sammeln Kronkorken, andere spielen Kohlenberta, und manche schauen Katzenklo.

Das Geschehen im öffentlichen Raum wird von unzähligen Kameras registriert und die Bilder vieler dieser Kameras sind einsehbar. Dieses System als Sicherheitsmaßnahme zu bezeichnen ist nebenbei bemerkt zumindest zweifelhaft, da die Bilder nur gesichtet werden, nachdem sich das ereignete, was die Überwachung doch verhindern sollte. Zu den vermeintlich das Böse verhindernden Kameras kommen unzählige, die etwas überwachen, das nicht einmal für den Betreiber der Kamera selbst sicherheitsrelevant ist. Wer eine Webcam auf den Kirchturm oder seine Kuckucksuhr richtet, kann ausser Spaß kaum etwas anderes im Sinn haben.

Im Lauf der Jahre entstand ein globales, dezentrales Fern-Seh-Netz mit unüberschaubarer Programmvielfalt. Warum wir alle Zugang zu diesen Kameras haben und diesen auch nutzen, um beispielsweise den Kaffeevorrat in anderer Leute Büro zu begutachten, ist eine jener Fragen, die man besser nicht stellt; furchtbar interessant, aber kaum zu beantworten, und wenn man doch eine Antwort findet, ist diese eher deprimierend. Nehmen wir einfach zur Kenntnis, dass die Kaffeekameras regelmäßig besucht werden, und zwar von deutlich mehr Menschen als den potentiell Kaffee konsumierenden Angestellten. Das ergibt keinen Sinn, aber die Fähigkeit, Unsinn und Nutzloses zu produzieren, unterscheidet den Menschen vom Tier.

Nur wenig ist langweiliger, als einer Kaffeekanne ausserhalb unserer Reichweite beim Leerwerden zuzusehen. Das trifft auf fast alles zu, was man mit Webcams beobachten kann; es ist furchtbar uninteressant, aber nur, wenn man nicht lange genug hinschaut. Und da kommt Kurt Caviezel ins Spiel. Der schaut sehr genau hin, und das schon ziemlich lange.

Der Künstler trug in jahrelanger Kamerüberwachung eine schier unglaubliche Menge von Bildern zusammen, die allesamt von Webcams abgegriffen wurden. Die Menge der Bilder ist dabei von ganz entscheidender Bedeutung, denn wie bei vielen Sammlungen schlägt auch hier Quantität in Qualität um. Erst die Menge erlaubt, wiederkehrende Muster zu erkennen. Ist das einzelne Bild nur lustig oder banal oder nichtssagend, wird es in der Reihe ähnlicher zum Baustein der Erkenntnis. In der Reihung verwandter Bilder bringt Caviezel Ordnung in die Bilderflut.

Seine typologischen Reihen strukturieren die Ereignisse vor der Kamera. Aus einem fortlaufenden amorphen Strom werden in der Reihe der Einzelbilder Muster erkennbar, und zwar sowohl im Geschehen vor einer einzelnen Kamera als auch beim Vergleich völlig unabhängig voneinander operierender Geräte, die nie zuvor irgend jemand zusammenzubringen gedachte. Kein Betreiber der Kameras hatte so etwas vorgesehen, das schaffen nur Wesen von anderer Intelligenz.

Spinnen beispielsweise haben zu Webcams ein anderes Verhältnis als Menschen. Kameras sind ihnen Umgebung wie alles andere, woran sich ein Netz befestigen lässt. So inszeniert die Spinne vor der Kamera ganz beiläufig und ohne jede Absicht ein Stück Wirklichkeit, das diese in ihrem Automatismus auf unsere Monitore überträgt. Ob die Kamera nun ursprünglich im Nationalpark zur Beobachtung von Elefanten oder im Parkhaus zur Überwachung des Treppenhauses installiert war, ist der Spinne eins.

Vögel wiederum schweifen umher, suchen Futter und gelegentlich ruhen sie, am liebsten dort, wo sie sicher sind. Auf einer Webcam kann sich der Vogel niederlassen, und wenn er sich entsprechend setzt, hängt des Vogels Schweif vor dem Objektiv. Dies war von den Entwicklern der Webcam weder beabsichtigt noch bedacht, und doch wurde es eine häufige Nutzung dieser Technik. Jetzt fehlt nur noch jemand, der gerade zuschaut, die Gunst des Augenblicks erkennt und im entscheidenden Augenblick das Bild abgreift.

Kurt Caviezel ist dieser Jemand, in seinem Archiv findet sich das alles und noch viel mehr. Was Regen, Schnee, Eis oder Kondenswasser mit einer den Elementen ausgesetzten Linse machen, können wir hier genauso studieren wie das Verhalten geschlechtsreifer Urlauber im Schwimmbad oder das einsame Warten des Stadtbewohners auf den Bus.

Jede Webcam wurde mit irgendeiner Idee aufgestellt, jemand verfolgt eine Absicht, manche dienen gar einem Zweck, doch werden all diese Ideen, Absichten und Zwecke sekundär, wenn man die von Webcams produzierten Bilder in der Zusammenschau sieht. Sorgfältig ausgewählt und arrangiert offenbart die Enzyklopädie des automatisierten Sehens einen ungeahnten visuellen Mehrwert, den Caviezel aus dem endlosen Strom der ununterbrochen entstehenden und umgehend wieder vergehenden Bilder schöpfte.

Joachim Schmid
Februar 2015

Einleitung zu The Encyclopedia of Kurt Caviezel, ISBN 978-88-909817-5-3