„Hohe“ und „niedere“ Fotografie
Eines der so bemerkenswerten wie erstaunlichen Phänomene in der Entwicklung der zeitgenössischen Kunst ist die im Lauf der vergangenen Dekade etablierte Selbstverständlichkeit der Fotografie. Man sollte sich – um diesen Schritt angemessen zu würdigen – kurz daran erinnern, daß fotografische Arbeiten als Gattung noch Anfang der achtziger Jahre erhebliche Legitimationsprobleme hatten und nur vereinzelt im Kontext der Kunst geduldet waren. Zwar erfreute sich die reine Fotografie der Fotografen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen sowie deren theoretisches Korsett eines regelrechten Booms (um anschließend wegen struktureller Schwächen in sich selbst zusammenzufallen), doch wurde dieses vorläufig letzte Aufblühen der konventionellen Fotografie unfreiwillig in geschlossener Gesellschaft gefeiert; Künstler hatten daran nur einen geringen Anteil, und die der Tradition verpflichteten Agenten des Kunstbetriebs ebenfalls.
Während im Mittelpunkt des prosperierenden Gewerbes die fotografischen Qualitäten standen, blieb sein Kunstanspruch zweifelhaft – zu Recht, denn er beruhte auf schlichter Behauptung. Entscheidend für diesen Anspruch war die nachdrückliche Abgrenzung von allen Formen der gewöhnlichen Fotografie, die als maßgebliche Kulturtechnik des 20. Jahrhunderts die Wahrnehmung der uns umgebenden Welt und damit auch unser Verhältnis zu Fotografien jeder Art determiniert. Doch unterscheidet sich die „hohe Kunst“ der Fotografie von der allgegenwärtigen, in den Niederungen des Trivialen angesiedelten Normalfotografie – wenn man die Umstände von Produktion und Präsentation versuchsweise außer acht läßt und sich nur auf die Bilder konzentriert – in erster Linie durch ihre handwerkliche Präzision. Die vornehmlichen Merkmale der „guten“ Fotografie heben diese oberflächlich zwar deutlich von ihrem alltäglichen Gegenstück ab, doch handelt es sich hier lediglich um einen graduellen Unterschied; ihre Verwandtschaft wird evident, sobald gleiche Bedingungen herrschen und die „niedere“ Fotografie in die gehobenen Distributionskanäle gerät (oder umgekehrt die Fotokunst beispielsweise in die Boulevardpresse).
Mit der Perfektionierung der rein utilitaristisch begründeten fotografischen Produktion wurde die Abgrenzung der zweckfreien Fotokunst noch problematischer. Die partielle Annäherung von Reportage, Modefotografie, Werbung und Fotokunst ließ sich auch durch einen geschickten ästhetischen Überbau nicht verschleiern – zwischen den unterschiedlich begründeten Formen der anspruchsvollen Gebrauchsfotografie und den elaborierten Beispielen der konventionellen, kamerafixierten Fotokunst besteht kein fundamentaler Unterschied. Daraus zu folgern, daß „gute“ Reportage, Modefotografie oder Werbung eben auch als Kunst zu sehen seien, ist ausgesprochen dämlich, wenn auch mittlerweile fast schon üblich. Keine (oder vergleichsweise nur geringe) Legitimationsprobleme hatten schon vor dem „Fotoboom“ solche fotografischen Arbeiten, die nicht in der Tradition der sogenannten künstlerischen Fotografie entstanden. Deren Produzenten – meist bildende Künstler – bedienten sich zwar der fotografischen Technik, doch war das resultierende Foto kein Selbstzweck, sondern das Mittel einer ästhetischen Artikulation nichtfotografischer Interessen. Viele dieser Künstler bedienten sich dabei bildnerischer Muster, die aus dem Repertoire der von Fotografen verachteten Trivialfotografie stammen – sofern sie überhaupt selbst fotografierten und nicht die massenhaft vorhandenen Bilder in der vorgefundenen Form direkt übernahmen. Die Welt der allgegenwärtigen Fotografie ist jedoch nicht nur das Materialreservoir und die Inspirationsquelle solcher Arbeiten, sie bildet auch ihren Bezugsrahmen; das Thematisieren und Verarbeiten von privaten Schnappschüssen, Zeitungsfotos, Postkarten, Fotoromanen, Polizeifotos etc. ist einerseits Rückgriff auf ein ästhetisches Faszinosum, andererseits aber auch ein Indiz für die Bedeutung, die diesem Material in einer entwickelten Mediengesellschaft zukommt.
Die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Erscheinungen der „niederen“ Fotografie ist in den vergangenen Jahren zu einem wesentlichen Aspekt der gegenwärtigen Kunst und der Fotografie geworden und hat eine entsprechende Vielfalt von Verarbeitungsformen hervorgebracht, die heute so selbstverständlich geworden sind, daß wir sie fast schon mit Fotografie zu identifizieren versucht sind. Nachdem die Beschränktheit der konventionellen Fotografie in ihrem gesteigerten produktiven Leerlauf so offensichtlich wurde, daß sie viele ihrer Vertreter vom Dogma des „guten“ Bildes abrücken oder konvertieren ließ, erscheint die früher beharrlich vorgetragene und oft etwas fundamentalistisch anmutende Unterscheidung zwischen Fotografen und Künstlern, die Fotografien benutzen, heute irrelevant und anachronistisch, doch läßt sie sich trotz mancher Unschärfe nach wie vor aufrechterhalten.
Denn es sind die künstlerischen Verarbeitungen der anspruchslosen, banalen und gegen die hohe Ästhetik gerichteten Formen der Fotografie, die ein neues Interesse an dieser Technik begründeten, nicht die anspruchsvollen Elaborate der originären Fotografie. Deren auf der Höhe der Zeit operierende Vertreter versuchen ihr Dilemma zu lösen, indem sie einige Merkmale der unterentwickelten Fotografie wie Falschfarbigkeit, Unschärfe etc. aufgreifen und kultivieren. Diese scheinbare Annäherung der hohen Fotokunst an ihre niederen Verwandten bewirkt zwar eine – vorübergehende – Störung des Gewohnten, doch sind solche Ansätze, das Niedere zu perfektionieren, als Verstöße gegen den handwerklichen Ehrenkodex rein fotografisch motiviert und unterliegen somit den Bedingungen, die sie zu überwinden trachten.
Mit der selbstverständlich werdenden Präsenz des „Niederen“ in der Sphäre des „Hohen“ gerät das hierarchische kulturelle Bezugssystem durcheinander. Bestimmte bislang der Kontext, mit welcher Erwartung jemand einem Kulturobjekt begegnete, so verändern sich solche Haltungen und damit zwangsläufig die Kriterien zur Beurteilung jeder Art von Artefakt, wenn etwa eine Museumsausstellung sich kaum noch vom Schaufenster eines Fachgeschäfts für Designermöbel und Büroaccessoires unterscheidet, oder wenn – um beim Thema Fotografie zu bleiben – jemand dasselbe Bild morgens in der Zeitung und abends in der Galerie finden kann. Die Grenze zwischen der traditionell elitären, durch Attribute wie Einmaligkeit und Originalität gekennzeichneten Hochkultur und der trivialen, populären, industriell-„demokratischen“ Gebrauchs- und Unterhaltungskultur beginnt zu verschwimmen. Für Künstler (und für ihr Publikum) verändert sich damit der Orientierungsrahmen; der klassische Bezug auf die Geschichte der Kunst, das Arbeiten in und Weiterentwickeln von Traditionslinien, verliert sich tendenziell im erweiterten kulturellen Bezugssystem.
Im traditionellen Verständnis, das heute durchaus noch eine Rolle spielt, obwohl es sich spätestens mit Beginn dieses Jahrhunderts als äußerst zweifelhaft erwies, verhält sich die Trivialkultur parasitär zur Hochkultur: Sie verwertet mit einiger Distanz deren Hervorbringungen, während diese sich stetig und aus sich selbst erneuernd fortentwickelt, wobei ihre Schöpfer sich allenfalls punktuell von trivialen Phänomenen inspirieren lassen. Tatsächlich besteht zwischen beiden eine lebhafte Wechselwirkung (die als Kreislauf zu beschreiben ein recht holpriges Verständnis von Kreisen voraussetzt). Es können sowohl Errungenschaften der Hochkultur trivialisiert und popularisiert werden (zum Beispiel Mozarts Kleine Nachtmusik als Hintergrundgeräusch der Schokoladenwerbung oder Elemente konstruktivistischer Malerei als Tapetenmuster) als auch umgekehrt ausgesprochen populäre und anspruchslose Produkte ein ganzes Lebenswerk oder eine Kunstgattung begründen (wie die sogenannte primitive Plastik, Comic strips oder Knipserfotografie), doch passiert beides keineswegs zwangsläufig und regelmäßig, sondern eher zufällig und sprunghaft.
Am Beispiel Fotografie lassen sich die Wechselwirkungen und Überschneidungen von „hoher“ und „niederer“ Ästhetik besonders gut beobachten, denn diese Technik wurde seit ihrer Erfindung immer parallel für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt, für Kunst, Wissenschaft und Handwerk, das Schöne, Wahre und Gute. Trotz unterschiedlicher Interessen gelangen Fotografen dabei aufgrund der Zufälligkeit ihres Verfahrens zu oft recht ähnlichen Ergebnissen. Dazu kommt, daß Fotos ausgesprochen komplexe Informationshaufen sind; sie entstehen immer in einer bestimmten Absicht, doch deckt sich diese meist nicht mit dem Resultat und ist jenem oft auch kaum anzumerken. Nicht trotz, sondern wegen dieses scheinbaren Mangels sind Fotografien so geschmeidig und können für nahezu jeden beliebigen Zweck verwendet oder „mißbraucht“ werden; sie können, je nachdem, welche ihrer Dimensionen gerade hervorgehoben wird, in allen möglichen Kanälen alle möglichen Funktionen erfüllen. Je größer die Differenz zwischen beabsichtigtem und tatsächlich entstandenem Bild, desto variabler ist es zu gebrauchen.
Während die sogenannte künstlerische Fotografie bei ihren Höhenflügen um eine Minimierung ihres Gebrauchswerts bemüht ist und dieses Ziel doch nie erreicht, steht dieser beim alltäglichen Normalfoto im Vordergrund: Es will immer etwas. Zugleich birgt es jedoch immer einen visuellen Mehrwert, der um so bedeutender wird, je belangloser und gewöhnlicher die ursprüngliche Absicht erscheint. So erweist sich die am ideellen ästhetischen Nullpunkt angesiedelte Fotografie als die brauchbarste – Bilder aus Fotoautomaten und Überwachungskameras, deren ästhetisches Ideal zwangsläufig aus dem maschinellen Prozeß folgt, die aus dem Reflex des Draufhaltens resultierenden Fotos der Knipser, die Produkte der industriellen Verwurstung.
Millionen aus unterschiedlichen Gründen mit Kameras hantierender Personen haben in einem Jahrhundert industrialisierter Bildproduktion eine unvorstellbare Menge solcher Fotografien erzeugt; wir waten buchstäblich in diesen Bildern, und vielleicht stehen sie uns auch schon bis zum Hals. Dieses im Überfluß vorhandene Material verdankt sich selbstverständlich begründeten Bedürfnissen, doch ist die triviale Bildwelt nicht nur der unvermeidliche Abfall der Industriegesellschaften und auch nicht nur deren visuelles Echo, vielmehr bildet sie als Teil dieses Komplexes eine eigenständige Realität, deren Partikel als Ersatz für authentische Wahrnehmung und Erfahrung fungieren und zugleich eine schlichte Ware sind. Ihre schiere Menge ist so unheimlich und bedrückend, daß sie sich – so man sich nicht ignorant stellen will – auf jede Beschäftigung mit Fotografie auswirken muß. Da alles schon einmal in allen möglichen Varianten fotografiert und bei Bedarf in öffentlichen und privaten Sammlungen und Archiven aufzufinden ist, besteht keinerlei Notwendigkeit, den Bilderberg weiter zu vergrößern; dagegen spricht einiges dafür, aufs Fotografieren zu verzichten, um statt dessen den angehäuften Fundus umzuwälzen und abzutragen.
Der real existierende Bilderberg hält (fast) alles bereit, was zur fotografischen Artikulation von Aussagen jeder Art benötigt wird, so daß es kaum noch einen Grund zu knipsen gibt. Daß täglich trotzdem unzählige Bilder produziert, nach einmaligem Gebrauch abgelegt und nur selten noch einmal benutzt werden, folgt aus der Eigendynamik des industriellen Systems. Dieser Unfug ist aus ökologischer Sicht zu kontern, indem der angehäufte Abfall als ein verwertbarer Rohstoff betrachtet und in einem Recyclingprozeß immer wieder genutzt wird. Statt durch fortschreitende Bildproduktion weiter an der Überflutung und Verschmutzung der Welt mit Fotos mitzuwirken, geht es jetzt darum, den angesammelten Müll zu entsorgen. Recycelnde Künstler verhalten sich dabei zu Fotografen wie Koprophagen zu anderen Tieren: Die einen verwerten den Mist der anderen.
Am Anfang dieser notwendig gewordenen Wiederaufbereitung von Fotografien steht das Sichern und Erforschen des Abfalls, das Sortieren und Strukturieren eines bislang als illegitim angesehenen Gegenstands. Sobald man sich abseits pauschaler Werturteile auf die Einzelheiten der summarisch abqualifizierten Trivialfotografie einläßt, wird man in der verachteten Masse nicht nur unvermutete Äquivalente der geschätzten Meisterwerke der Fotokunst, Mengen von unbeabsichtigten Surrealismen oder erstaunliche Ready-mades finden, sondern darüber hinaus ein unter soziologischen wie unter ästhetischen Gesichtspunkten nutzbares Archiv für alles entdecken, ein unerschöpfliches Reservoir von Bildern, die jeder Anwendungsmöglichkeit zur Verfügung stehen und sich aufgrund ihrer relativen Unbestimmtheit allen Wünschen, Bedürfnissen, Ideen und Interessen beugen. Selbstverständlich wäre es naiv, die massenhaft vorhandenen Trivialfotos a priori als die „besseren“ Bilder anzusehen, doch bestätigt ihre differenzierte Betrachtung allemal die Arroganz des etablierten Blicks. Dessen Konvention zu brechen und den verstreuten visuellen Mehrwert der ungeschriebenen Fotogeschichte zu nutzen, anstatt den vorhandenen Bilderberg ohne Not zu vergrößern, ist die Herausforderung, die die gewaltige Hinterlassenschaft der Fotografen selbst formuliert.
Wenn dieses Material zum Gegenstand künstlerischer Arbeit wird, ist das keine beliebige Modeerscheinung des innovationsbedürftigen Kunstbetriebs, sondern recht naheliegend: Die gefährlich werdende Menge und Omnipräsenz der Fotografie erzwingt ihre Bearbeitung. Denn längst bestimmt die zweite Wirklichkeit der Bilder unser Verhältnis zur nicht mehr vorhandenen Natur, die sogenannte Realität erweist sich zunehmend als mediale Konstruktion, so daß im medienreflexiven Arbeiten das realistische quasi aufgehoben ist. Die Realität ist die der auf uns einströmenden Bilder, und sich dieses Stroms zu erwehren, ihn zu analysieren, zu ironisieren, umzuwerten oder gegen sich selbst zu kehren, kurz: sich kritisch damit zu beschäftigen, ist zu einem Akt der Selbstbehauptung geworden. Solche Notwehr dürfte – wenn sie nicht privat bleiben oder kriminell werden soll – kaum innerhalb der etablierten Institutionen und Apparate, die sie verursachen, möglich sein und entwickelt sich somit zwangsläufig im Refugium der Kunst.
Aus der Sicherheit dieser Nische kann sich das kritische Potential jedoch wieder ins „wirkliche Leben“ einmischen, denn solche Arbeiten, die sich auf die Welt der trivialen Bilder beziehen oder sich diese kannibalistisch einverleiben, verändern auch das Bezugssystem der Kunst; durch ihre ästhetische Dimension sind sie in ihm verankert und durch ihre soziale erweitern sie es. Gleichgültig, ob die Weigerung, selbst zu fotografieren, zur direkten Aneignung von Vorgefundenen Bildern führt, ob analytische Selektion und vergleichende Reihung die Mythen des Alltags dekonstruieren oder ob ein Foto durch visuelle oder verbale Manipulationen für eine seinem ursprünglichen Gebrauch zuwiderlaufende Idee genutzt wird, führen die aus solchen Bildverarbeitungsprozessen resultierenden Werke zu einer mehrfachen Irritation: Sie entstehen im Kontext der Kunst, doch verweisen sie nicht nur auf sich selbst; sie sind zu nichts direkt zu gebrauchen und weigern sich zugleich, nur schön zu sein; und sie stammen von Künstlern, die keineswegs darauf bestehen, als Originalgenies betrachtet zu werden.
Damit verändert sich auch das hergebrachte Bild des Produzenten: Der ist nicht mehr der werkelnde und schaffende, aus seinem Innersten schöpfende und um Originalität bemühte Kreateur, sondern eher jemand, der stellvertretend für sein Publikum (zu dem er selbst gehört) aufnimmt und wiederaufbereitet, was die ihn umgebenden Apparate ausstoßen, um so in einem Gebiet mit dauerhaften medialen Niederschlägen für gelegentliche Aufheiterungen zu sorgen.
Joachim Schmid
Januar 1992
Der Text entstand ursprünglich als Vortrag für das Symposium The Photographic Dimension: Contemporary Strategies in the Arts, Madrid 1992. Er wurde erstmals in Kunstforum international Nr. 129/1995 veröffentlicht und erschien in der von Hubertus von Amelunxen herausgegebenen Textsammlung Theorie der Fotografie IV, München 2000.
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