Keine neuen Fotos, bis die alten aufgebraucht sind
Die Fotografie, oder besser: ein paar Millionen oder Milliarden (?) aus unterschiedlichen Gründen mit Fotoapparaten hantierender Personen haben im Lauf von etwas mehr als 150 Jahren (Traraa! Traraa!) unvorstellbare Massen von Bildern hervorgebracht – ein Allgemeinplatz. Addiert man diese soundsoviel Milliarden Quadratzentimenter Fotopapier pro Jahr und stellt sich sie ordentlich nebeneinander ausgebreitet vor, ließe sich (unvorstellbar) die Erdoberfläche mit allem, was in gut 150 Jahren so durch die Kameras gegangen ist, mehrfach bedecken; wir waten also buchstäblich in Fotografien, vielleicht stehen sie uns auch schon bis zum Hals.
Es ist recht einfach und auch etwas billig, die schiere Menge zu beklagen, denn selbstverständlich verdankt sich die massenhafte Produktion und Zirkulation von Fotografien einem begründeten Bedürfnis. Die erklärbare und offensichtliche Notwendigkeit der Fotografie ändert jedoch nichts an der Unerträglichkeit ihrer faktischen Präsenz. Leider sind die unvorstellbaren Mengen jemals produzierter Bilder nicht ordentlich nebeneinander ausgebreitet, sondern in Spezialbehältern wie Diamagazinen, Fotoalben, Galerieschränken oder Archivhochhäusern gestapelt. Solche Stapel verstellen den Blick.
Die verschiedenen Aufbewahrungsformen deuten bereits an, dass dem ganzen Haufen pauschal nicht beizukommen ist: Die unermessliche Produktion wird – den unterschiedlichen Verwertungsinteressen entsprechend – nach praktischen Kriterien und Gewohnheiten, die in Funktion des Bildermarkts zwangsläufig entstanden, recht einfältig auseinandergeordnet; das erschwert die kritische Betrachtung der Fotografie enorm.
Die größten Haufen bilden selbstverständlich die anspruchslosen, gewöhnlichen und – aus der Sicht des “guten” Fotografen – heruntergekommenen Bilder der Zeitungs-, Postkarten-, Passbild-, Versandhauskatalog- und Kalenderfotografen sowie die der Knipser, die hier vorläufig vernachlässigt werden können, da sie nur das unumgängliche Ornament eines anderen Marktes darstellen. Dieser verachteten Normalfotografie steht die sogenannte Kunstfotografie gegenüber, die sich ums anspruchsvolle und ungewöhnliche Bild bemüht; durch geschicktes Sortieren entsteht der Eindruck, es handele sich hier um eine völlig eigenständige, mit dem Rest des Fotohaufens nur entfernt verwandte Gattung.
Doch gleichgültig, für welchen Stapel sie produzieren, die Fotografierenden vereint nicht nur das Gerät, sondern auch die atavistische Arbeitsweise; es ist die des Jägers, Sammlers oder Fallenstellers: Der durchstreift “sein“ Revier”, pflückt da und dort eine reife Frucht, die er nicht angepflanzt hat, schießt auf alles, was ihm nicht gehört, aber Gewinn verspricht, um seine Eroberungen dann möglichst schnell unter die Leute zu bringen; was er nicht eintauschen kann, wirft er weg oder frisst es eben selbst, besonders schöne Stücke kommen ins Museum; abends trifft man sich mit den Kollegen am Stammtisch, und jährlich werden auf überregionalen Treffen jägerlateinische Erfahrungen ausgetauscht, die lustigsten Wolpertinger oder Fotomontagen wandern von Tisch zu Tisch.
Die Beute oder Ernte wird einem fein organisierten Verwertungsbetrieb zugeleitet, der versucht, das von den Fotografen gelieferte Material gewinnbringend weiterzuverarbeiten. Fotografen sind also (in definitorischer Kürze) die Dummköpfe, die den Betrieb mit Rohstoffen beliefern – gegen ein mehr oder weniger bescheidenes Entgelt. An den Extrempunkten der Vergütungsskala entwickelt sich Selbstbewusstsein: Viel Geld macht den Star, wenig oder gar kein Geld den “Künstler”.
Dass jemand Normalfotograf wird, um an einem offensichtlichen Bedürfnis Geld zu verdienen, entschuldigt zwar nichts, ist jedoch leicht zu verstehen. Nur schwer verständlich ist jedoch die Motivation des Kunstfotografen. Wer jemals die entwürdigende Prozedur beobachtet hat, wie sich ein Kunstfotograf X darum bemüht, seine langweiligen Bilder ausstellen zu dürfen, wird nur noch Mitleid aufbringen können; auch die standardisierte Erklärung, dass sich Herr X da eben so gefühlt habe, dass er die Finger nicht mehr habe still halten können, dass er weiterhin alles, was man als vernünftiger Mensch einem Fachbetrieb überantworten würde, ganz alleine gemacht habe und dass ihm das persönlich alles sehr wichtig sei, verhilft uns nicht zur Einsicht, warum jemand Dinge, die niemanden interessieren, die niemand kaufen will, mit denen niemand etwas anzufangen weiss, unbedingt in aller Öffentlichkeit mit seinem Namen verknüpft sehen möchte.
Selbstverständlich ist dies kein für die Abteilung Fotografie des Kunstbetriebs spezifisches Phänomen, doch spielt es da eine besondere Rolle; denn zu allen gemeinen Problemen des sich vermarktenden Künstlers gesellt sich beim Fotografen ein ganz eigenes: Er hat eigentlich nichts gemacht, nichts zumindest, was nicht der kleine Mann von der Straße oder Lieschen Müller, die Bürger draussen im Land und zuhause an den Geräten nicht nur auch machen könnten, sondern tatsächlich auch machen. Die Situation ist nicht zu vergleichen mit der einer im Museum sich erregenden Kleinfamilie, die, mit dem Finger lauthals auf einen Picasso deutend, das Werk gerne den selbstgemachten Kindern in die Schuhe schieben würde, obwohl diese Vergleichbares weder machen könnten noch machen.
Problemlos lässt sich die Geschichte der guten Fotografien – so man denn an ihr interessiert ist – auch aus dem vermeintlichen Abfall konstruieren, man müsste sich als Konstrukteur solcher Geschichte nur einmal in einem anderen Stapel umsehen als in dem, der einem gewohnheitsmäßig im Wege steht. Nehmen wir als Beispiel den Kölner Lokalmatadoren August Sander, dem in Fachkreisen eine ganz eigene Bildauffassung nachgesagt wird (nebenbei: diejenigen, die dieses Gerücht in die Welt gesetzt und nachgeplappert haben, werden schon wissen, warum). Was der fleissige Mann über Jahre zusammengeknipst hat, ist in der Tat erstaunlich, noch erstaunlicher allerdings ist, dass zwei Wochenenden Flohmarkt-Wühlerei zu einem ähnlichen Ergebnis führen können: In jedem dritten Familienalbum der gefragten Zeit ruhet in Frieden ein “Sander”-Foto, wie es jeder kennt. Das Interessante an Sanders Arbeit kann also wohl kaum seine besondere Bildauffassung sein (oder zumindest nicht sie allein), sondern die ideologische Konstruktion seines Gesellschaftsporträts; in diese allerdings so viel Lebenszeit zu investieren, war verschwenderisch, und die (mehr oder weniger konventionellen) Bilder dazu hätte er – wäre er kein Fotograf gewesen – auch aus Nachbars Zigarrenkiste nehmen können.
Doch nicht nur, dass es der fotografischen Produktion an – sagen wir – individuellem Ausdruck mangelt, auch sonst hat der Fotograf nichts (oder der Korrektheit halber: verdammt wenig) gemacht: weder die Landschaft noch die Architektur, die er seinem Bilde einverleibt, und die porträtierten Menschen in der Regel auch nicht. Aufs Knöpfchen hat er gedrückt, und da das erwiesenermaßen selbst ein Schimpanse kann (und dessen neuzeitliche Variante, der Computer, erst recht) flüchtet er in die Dunkelkammer; dort versucht er, den Handwerker an Handwerklichkeit zu übertreffen, um uns das Resultat seiner Bemühungen als “Kunst” vorzuführen. Zum Schluss bleibt nichts als der Versuch, ein bisschen anders als die Vorgänger und Konkurrenten zu knipsen oder am Papier zu flicken: am Oberflächlichen haftende Originalitätssucht begründet ein blühendes Kunsthandwerk. Der schöpferische Fotograf – eine Fiktion (Propagandalüge).
Fotografen machen Bilder, keine Frage; aber wer macht Fotografen? Ist die Modezeitschrift ein Produkt des Fotografen oder dieser ein Produkt seiner Auftraggeber? Oder der sogenannte Kunstfotograf, der ja die Selbstbestimmtheit als Prinzip verkörpern soll? Ist er nicht eher Produkt einer von Verlegern, Redakteuren, Galeristen und Kuratoren erdachten Strategie? Tatsächlich ist der Fotograf – wie jeder Rohstofflieferant – ein Opfer; die unentwegte Beteuerung des Gegenteils besänftigt als wohlfeile Streicheleinheit das sensible Ego des selbstbewussten Lieferanten und dient zugleich dem laufenden Betrieb: Ruhe im Puff.
Erstaunlicherweise zieht kaum ein Fotograf eine der beiden möglichen Konsequenzen aus dem beschriebenen Dilemma: entweder sich nicht aufs Knipsen zu beschränken und die Weiterverarbeitung der eigenen Produkte selbst in die Hand zu nehmen – oder die Produktion einzustellen; alle wollen selbst abdrücken und sich dabei selbst verwirklichen. Nicht ganz schuldlos an dieser Situation sind die selbsternannten Hilfstruppen der Fototheorie, Kritik und Geschichtsschreibung, die fast ausschließlich aus der Position des Produzenten argumentieren, und zwar legitimatorisch: Zu gerne wollen sie beweisen, wer oder was gerade richtig und wichtig ist, wer oder was verdient, als hervorgehobene Besonderheit die Illusion lebendig zu repräsentieren, die jenen frisches Futter liefert.
Selbstverständlich ist nicht zu bestreiten, dass in diesem Prozess die eine oder andere Leckerei entstand, doch verwundert sowohl, mit welcher Schnelligkeit und Eleganz das aktuelle ästhetische Repertoire der Kunstfotografie von der Werbung jeweils vereinnahmt wird, als auch der Gleichmut, mit dem sich die Opfer dem scheinbar Unausweichlichen beugen. Nimmt man die Selbstbezichtigungen der fotografischen Vorhut spaßeshalber einmal ernst, kann es wohl kaum Sinn und Zweck des Unternehmens sein, unentwegt und ohne Not experimentierend dem reaktionärsten Apparat freiwillig und kostenlos die Muster zeitgemäßer Bildnerei zu liefern – um der vermeintlichen Selbstverwirklichung und Originalität willen.
Bedenkt man weiter die jedem als Allgemeinplatz wohl bekannte, doch offensichtlich im Bewusstsein kaum präsente Menge der vorhandenen Bilder, scheint mir die Umkehrung des traditionellen Fotografenverhaltens recht naheliegend: anstatt den laufenden Betrieb zu beliefern und ganz nebenbei auch noch die “Forschungsarbeit” für pfiffige Verwerter zu übernehmen, sich einfach des Vorhandenen zu bedienen (das Opfer des Vampirs wird selbst Vampir). Der Einwand, es handele sich beim massenhaft Vorhandenen um minderwertiges Material, ist erstens falsch (s.o.) und offenbart neben der Beschränktheit des eingespielten Blicks zudem die fast schon organische Inkompetenz des Fotografen in puncto weiterentwickelter Ästhetik.
Denn nicht nur, dass die verbreitete Auffassung das Mittel mit der Methode, den Rohstoff mit dem Endprodukt und dieses mit dem Ziel verwechselt, es entgeht ihr auch der wesentlichste Vorzug des als verachtenswert einmal eingestuften Haufens: Je weiter sich die bildnerischen Ansprüche und Fähigkeiten des Fotografen dem ideellen Nullpunkt nähern, desto geschmeidiger und variabler, desto brauchbarer werden seine Resultate, während alles, was der “gute” Fotograf an optischem Mehrwert schafft, dessen Produkt nur sperriger und damit unbrauchbarer macht. Dies als Erfolg einer Verweigerungshaltung zu bezeichnen, ist so korrekt wie naiv; zerbrochene Gläser oder abgestumpfte Farbstifte sind schließlich per se auch keine Kunstwerke, von netten Töpferwaren und selbstgestrickten Topflappen ganz zu schweigen.
Meine Lieblingsfotografen, der Bahnhofsautomat und die Überwachungskamera, deren ästhetisches ideal zwangsläufig aus dem maschinellen Prozess folgt, die Knipser, die das Draufhalten zur Perfektion entwickelten, und alle, deren Produkte durch industrielle Verwurstung zur Kenntlichkeit entstellt werden, schaffen dagegen den Stoff, der als allgegenwärtiges Normalfoto so flexibel ist, um sich durch geringfügige Manipulationen jeder gewünschten Idee zu beugen, jeder Anwendungsmöglichkeit zur Verfügung zu stehen und seine inhärente Poesie durch einfache Kontextverschiebungen zu offenbaren. Die Menge und die Vielfalt des zur Verfügung stehenden Materials erübrigen (fast immer) das Selberknipsen – das Foto als Ready Made, als fertiges Bild, das nur noch den jeweiligen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen entsprechend fertigzumachen ist. Das ist nicht nur ökonomisch und ökologisch äußerst verantwortungsbewusst gedacht (Recycling lautet das Gebot der Stunde), sondern lenkt zudem den Blick vom Handwerklichen aufs Konzeptionelle.
Von Interesse ist jetzt nicht mehr, wer was wie geknipst hat, sondern die durch Selektion und Verarbeitung verfolgte Idee (oder wie immer man das nennen will). Naheliegenderweise macht sich der Produzent solcher Ideen die Erkenntnis zunutze, dass die zweite Wirklichkeit der Bilder die erste der Realien längst überdeckt hat und diese sich zunehmend als mediale Konstruktion erweist. Doch ist das Arbeiten mit vorgefundenen Bildern nicht nur eine zeitgemäße Form medienkritischer Artikulation, in der die realistische aufgehoben ist, es verändert zugleich das hergebrachte Bild des Produzenten: Der ist nicht mehr Werkelnder und Schaffender, schon gar nicht aus seinem Innersten schöpfendes Genie, sondern ein aus der Position des Betrachters operierender Verarbeiter, der nicht nur konsumiert, sondern schaut und selektiert, neu sortiert und wiederaufbereitet, was die ihn umgebenden Apparate ausstoßen. Wenn all das aufgebraucht ist, können wir wieder übers Fotografieren reden.
Joachim Schmid
Berlin 1987
Der Text entstand im Zusammenhang mit der Ausstellung Hohe und niedere Fotografie (Hafensalon, Köln 1988) und erschien erstmals in der Dokumentation einer Podiumsdiskussion zur Ausstellung.
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